Umgang mit Corona: Verbohrt und arrogant Während sich Bund und Länder streiten, Maskenverweigerer demonstrieren und Firmen pleitegehen, funktioniert das Leben in Ostasien fast wie zuvor. Wir sind selbst schuld. © Michael Heck

Eine Kolumne von Vanessa Vu

24. November 2020,

Verbohrt und arrogant

Mein Vietnamesischlehrer in Ho Chi Minh City hat mich letztens ausgelacht: "Corona? Das gibt's nur bei euch in Europa!" In Vietnam sei das längst kein Thema mehr, sagte er in unserer Zoom-Stunde. Und tatsächlich: Seit 83 Tagen hat sich niemand mehr im Land angesteckt, die wenigen Neuinfektionen gehen alle auf Personen zurück, die bei ihrer Einreise isoliert und getestet wurden. Für meine Verwandten und Freundinnen dort heißt das: Abendessen mit der Großfamilie, Karaoke-Nächte, volle Clubs. Wenn ich mir in sozialen Medien die Bilder ansehe, dann frage ich mich schon manchmal, wer von uns gerade in der freieren Gesellschaft lebt. Und warum wir, die in einem angeblich so weit entwickelten, hochtechnologisierten Land leben, das Virus nicht in den Griff bekommen.

In Vietnam leben etwas mehr Menschen als in Deutschland (96 Millionen vs. 83 Millionen) auf insgesamt etwas weniger Fläche (331.212 Quadratkilometer vs. 357.386 Quadratkilometer). Das Land hat außerdem drei Nachbarländer, eins davon ist China, wo das Virus ursprünglich herkommt. Trotzdem gab es seit Ausbruch der Pandemie in Vietnam insgesamt nur rund 1.300 nachgewiesene Infektionen. Deutschland dagegen meldete über 900.000 Fälle, täglich kommen derzeit rund 15.000 Neuinfektionen dazu.

Nun sind offizielle Statistiken in einem Einparteienstaat ohne Pressefreiheit zugegebenermaßen wenig verlässlich und die Inszenierung des Erfolgs und die Kriegsrhetorik mag etwas überzogen wirken (ein Leitmotiv ist "chõng dích nhú chõng giâc" - die Pandemie wie ausländische Invasoren abwehren). Doch Hunderttausende hustende, fiebernde Leute, ein Massensterben - das könnte selbst Vietnam nicht vertuschen. Im Gegenteil konnte man zu Beginn der Pandemie eher staunend mitverfolgen, wie vietnamesische Staatsmedien einfach Namenslisten mit allen Infizierten inklusive Alter und Wohnort veröffentlichten. Man kann also davon ausgehen, dass das Land das Virus wirklich in den Griff bekommen hat.

Was also läuft schief, dass wir fast 700-mal höhere Infektionszahlen haben? Ist es unsere Regierung mit ihren halbherzigen Maßnahmen und ihrer chaotischen Kommunikation - oder ist es am Ende doch die Bevölkerung, die möglicherweise aus historischen Gründen ein Problem mit staatlicher Autorität hat und sich ungern was von oben sagen lässt? Vermutlich beides.

Man muss es nicht Vietnam nachmachen. Sorgen um Datenschutz, Appelle an Eigenverantwortung und das föderale System haben ihre Berechtigung. Aber es gibt auch Mittelwege. Meine Kollegin Xifan Yang hat Strategien ostasiatischer Demokratien wie Taiwan, Japan und Südkorea analysiert, die ebenfalls zur Eindämmung des Infektionsgeschehens geführt haben. Demnach schafften es die Regierungen dort, mit schnellem Handeln und transparenter Kommunikation früh Vertrauen herzustellen und dadurch die Bevölkerung mitzuziehen. In Deutschland hingegen wirken Bund und Länder nach einem halben Jahr immer noch so zerstritten und zerstreut, dass es kurz vor dem nächsten Gipfel im besten Fall nur um Konsensfindung ging, im schlechtesten Fall um reine Selbstprofilierung - nicht aber um den effizientesten Schutz der eigenen Bevölkerung.

Außerdem haben viele asiatische Länder einen konsequenten Maßnahmenkatalog umgesetzt und nicht wie hier nur häppchenweise neue Regeln vorgetragen, die auf manche eher freiwillig wirken, weil kaum jemand ihre Einhaltung kontrolliert und Verstöße sanktioniert. Zum Beispiel wird in Deutschland zwar von Quarantäne geredet, irgendwo steht auch etwas von Bußgeldern und ab und zu werden sie sogar verhängt. De facto können sich aber die meisten potenziell wie tatsächlich infizierten Menschen in Deutschland unbemerkt frei bewegen und ihre Viren streuen.

Offiziell heißt es, die Behörden hätten nicht die Kapazitäten, um alle Infektionsketten nachzuverfolgen und allen Verstößen nachzugehen. Aber Kapazitäten sind auch eine Frage von Prioritäten, und Prioritäten können politisch gesetzt werden. Außerdem könnte man die Isolation deutlich effizienter gestalten. In den meisten asiatischen Ländern gibt es zum Beispiel besondere Einrichtungen für Einreisende. Solche Quarantänezentren sind zwar kostspielig - die Rettung von unzähligen Unternehmen, die nicht mehr wirtschaftlich planen können, ist es aber auch.

Zwischen Denken und Handeln klafft bei einigen eine große Lücke

Letztlich nützen aber selbst transparent kommunizierte, gut begründete und für die Bevölkerung nachvollziehbare Maßnahmen wenig, wenn eine kritische Zahl an Menschen einfach keine Lust auf diese Maßnahmen hat.

In Frankreich zum Beispiel griff die Regierung erst spät, aber dafür hart durch, zugegebenermaßen mit teils kuriosen Maßnahmen. Zum Beispiel darf man im Supermarkt noch Lebensmittel, aber keine Spielsachen mehr kaufen, und Sport ist auch nur noch im Umkreis von einem Kilometer erlaubt. Das einsame Bad im Meer oder die ausgiebige Joggingtour fallen damit weg. Das Ergebnis: 60 Prozent der Französinnen und Franzosen halten sich nach eigenen Angaben nicht an die neuen Regeln.

In Deutschland hat laut einer regelmäßigen Umfrage der Universität Erfurt zwar zuletzt die Akzeptanz von Eindämmungsmaßnahmen wieder zugenommen, 78 Prozent denken zum Beispiel, dass eine drastische Kontaktreduktion helfen kann. Zwischen Denken und Handeln klafft bei einigen allerdings eine große Lücke: In einer Umfrage des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) räumte jede vierte befragte Person ein, nicht seltener Freunde oder Familie zu treffen. Fast ein Drittel verlässt das Zuhause nicht weniger als früher.

Bei allem Verständnis für Menschen, die nicht im Homeoffice arbeiten können oder nur außerhalb ihres Haushalts Bezugspersonen haben und brauchen: Es gibt darüber hinaus genug Menschen, die sich einfach nicht einschränken wollen, selbst wenn sie es könnten oder es ihnen erleichtert werden würde. Menschen, die ihren Bewegungsdrang und ihre private Meinung trotz besseren Wissens und trotz materieller Möglichkeiten über die öffentliche Gesundheit stellen. Die so augenzwinkernd (oder selbstgerecht) Regeln brechen, wie sie beim Brettspiel schummeln.

Deutschland, das kann man im Vergleich zu deutlich ärmeren Ländern sagen, hat sich einfach an den Wohlstand und eine damit einhergehende Bequemlichkeit gewöhnt. Die Nudelsuppen-Verkäuferin in Vietnam oder der Fabrikarbeiter in Taiwan haben es auch nicht leicht. Dennoch reißen sie sich zusammen und tragen ihren Teil dazu bei, die Gemeinschaft gesund und die Pandemie kurz zu halten. Und sie taten das auch schon vorher, ganz ohne Not. In vielen asiatischen Ländern trugen die Menschen schon lange vor der Pandemie Masken, sowohl aus Schutz vor Feinstaub als auch aus Rücksicht vor Mitmenschen, und sie husten und niesen grundsätzlich diskret. Wer jetzt, trotz dieser Pandemiesituation, keine Maske trägt, wird ganz selbstverständlich zurechtgewiesen und spurt, anstatt mit den Augen zu rollen. So erzählten es mir jedenfalls ausnahmslos alle Verwandten und Bekannten in Vietnam. Und sie können nicht glauben, wenn ich ihnen im Gegenzug von grassierenden Verschwörungstheorien und Massendemonstrationen ohne Maske berichte.

Die eigene Freiheit und die eigene Meinung stehen in vielen ostasiatischen Ländern nicht zwangsläufig und zu jeder Zeit über der aller anderen, sondern können für ein Gemeinwohl zurückgestellt werden. Der Konsens kann im normalen Alltag belastend sein, erdrückend sogar, in Ausnahmesituationen wie dieser aber über Leben und Tod entscheiden. Das nicht anzuerkennen und in einer Pandemie auf der individuellen Freiheit zu beharren, ist einfach nur verbohrt und unsolidarisch.

Für viele asiatische Länder kommt natürlich erleichternd hinzu, dass es vergleichsweise warm ist und die Menschen Epidemien bereits kennen. Sie können also auf Erfahrungen zurückgreifen, die wir noch nicht haben. In einer global vernetzten Welt sollte es aber möglich sein, dass Länder wie Deutschland aus Erfahrungen von entfernteren Ländern lernen können, auch von Ländern des globalen Südens. Das wollen viele aber offenbar nicht und verweisen lieber auf autoritäre Führungen und unterwürfige Bürger. Das ist an Arroganz kaum zu überbieten.

Es sollte beides möglich sein: Freiheit, wenn möglich, und Rücksicht, wenn nötig. Kritisieren, wenn es gute Gründe gibt - aber auch einfach mal eigene Schwächen eingestehen und von anderen Menschen dazulernen.


Quelle: Zeit.de vom 24.11.2020